„Irgendwann musste ich mich selbst retten“ - Martina Westbrock‘s Spagat zwischen Pflegefachkraft und pflegende Angehörige
Als Pflegefachkraft ist Martina Westbrock die schwere körperliche Arbeit und die enorme Belastung im Schichtdienst gewohnt. Doch als pflegende Angehörige findet sich die Bochumerin in einer ganz neuen Rolle wieder. Sie stößt an ihre physischen und psychischen Grenzen. Die 58-Jährige zieht die Reißleine. Ihre Mutter lebt jetzt in einem Heim. Aber das hat seinen Preis.

Vor 16 Jahren pflegt Martina Westbrock zunächst ihren Vater, neben ihrer Arbeit und der Erziehung ihrer eigenen Kinder. Nach seinem Tod wird plötzlich Mutter Sigrid pflegebedürftig. „Anfangs konnte ich das alles noch bewältigen, aber da ich nicht in dem Haushalt meiner Mutter lebte, musste ich einen Pflegedienst hinzuziehen.“ Und dann kam Corona.
Martina Westbrock, übrigens VdK-Mitglied, leistet, wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, Mehrarbeit im Pflegeheim. Die Situation vor Ort ist kritisch und stellt das ganze Team vor eine große Herausforderung. Weil sie aufgrund der Umstände mehr als 30 Stunden arbeitet, streicht die Pflegekasse ihr die Rentenpunkte. Ihre Mutter versorgt sie parallel im gleichen Umfang.
Allerdings verschlechtert sich der Allgemeinzustand ihrer Mutter zunehmend. Sie lässt Herdplatten an, räumt ihr Essen nicht weg, vergisst zu trinken, stürzt häufiger und gibt fremden Personen ihre Bankkarte. Auch der Pflegedienst gerät ans Limit, wird zudem unzuverlässiger. Martina Westbrock weiß: „So kann es nicht weitergehen.“ Nur, was ist die Alternative? Job aufgeben, 24-Stunden-Kraft oder Pflegeheim?
„Ein Heimplatz kam erst einmal nicht infrage. Meine Mutter wollte das nicht. Und sie hatte ja das Haus, das wollten wir unbedingt behalten.“
Martina Westbrock holt sich Hilfe über die Pflegeberatung Spectrum und erhält wertvolle Tipps. Es wird alles ausgeschöpft, um den Heimplatz zu verhindern, samt Nachbarschaftshilfe, Notrufsystem, Unterstützung durch die Kinder oder Verhinderungspflege. Außerdem werden Anträge an die Pflegekasse gestellt, wenngleich diese zunächst oft abgelehnt wurden. „Was die alles an Schriftstücken haben wollen, man ist in diesem bürokratischen Dschungel einfach nur überfordert“, sagt Martina Westbrock.
„Ausgebrannt“
Kurze Zeit später stirbt auch noch ihr Bruder. „Das hat mich tief getroffen. Ich habe nur noch funktioniert. Das hat alles Nerven gekostet. Heute weiß ich, dass ich meine Trauer nie richtig bewältigt habe.“ Martina Westbrock fühlt sich ausgebrannt. Neue Kraft tankt sie im vergangenen Jahr in einer Reha. Fünf Wochen lang erholt sie sich von den Ereignissen, doch danach beginnt ihre Rolle als pflegende Angehörige von vorn. „Meine Energie ließ nach. Mich plagten Überforderungen mit depressiven Schüben und das schlechte Gewissen, nicht genug getan zu haben.“
Als die Mutter erneut schlimm stürzt, zwischenzeitlich sogar im Sterben liegt, zieht Martina Westbrock die Reißleine und sucht einen Heimplatz. „Irgendwann musste ich mich selbst retten!“ Mit etwas Glück kann sie Mutter Sigrid in dem gleichen Haus unterbringen, indem sie als Pflegefachkraft arbeitet, im ev. Altenzentrum am Schwesternpark – Feierabendhäuser der Diakonie in Witten.
Ihre Mutter wird aufgepäppelt, auch der geistige Zustand verbessert sich, mit dem Rollstuhl fährt sie durch die Räume und singt sogar im Chor mit. „Das war die beste Lösung. Sie blüht dort wieder auf. Ich besuche sie und schaue, ob alles läuft“, erzählt Martina Westbrock.
Doch das alles hat seinen Preis, denn Mutter Sigrid besitzt durch ihr Haus Vermögen. 3.400 Euro pro Monat müssen aus eigener Tasche gezahlt werden. Martinas Sohn ist mit seiner kleinen Familie in das Haus seiner Oma gezogen, stemmt den größten Teil der Kosten, den Rest übernimmt Martina Westbrock.
„Hätte meine Mutter kein Haus oder hätte sie es früh genug auf uns überschrieben, würde das Sozialamt den Platz bezahlen. Da waren wir nicht schnell genug. Sie sollte und wollte ja nie ins Heim. Wir dachten, wir schaffen das!“
Wissen, was zählt: Pflege leicht gemacht - Pflegebegutachtung
Unsere Referentin für Sozialpolitik, Vanessa Rengers-Patz erklärt den Begriff Pflegebegutachtung.
Die Pflegebegutachtung ist ein entscheidender Schritt, um den Grad der Pflegebedürftigkeit festzustellen und die Höhe der finanziellen Unterstützung durch die Pflegeversicherung zu bestimmen. Der Prozess beginnt mit dem Erstantrag bei der zuständigen Pflegekasse. Nach dem Antrag erfolgt eine Begutachtung durch einen Gutachter des Medizinischen Dienstes (MDkurz fürMedizinischer Dienst) bei gesetzlich Versicherten oder durch Medicproof bei privat Versicherten.
Der Gutachter führt in der Regel einen Hausbesuch durch, bei dem er die körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten des Antragstellers bewertet. Dabei geht es vor allem um den Hilfebedarf im Alltag, etwa bei der Mobilität, der Körperpflege oder der Nahrungsaufnahme. Wichtig ist: Für die Feststellung des Pflegegrads sind die praktischen Einschränkungen im Alltag entscheidend – Diagnosen oder Erkrankungen spielen dabei keine zentrale Rolle.
Betroffene sollten sich gut auf die Begutachtung vorbereiten, indem sie alle relevanten Unterlagen wie ärztliche Berichte, eine Liste der eingenommenen Medikamente und Informationen über ihren täglichen Hilfebedarf bereithalten. Besonders hilfreich ist es, konkrete Beispiele für die Unterstützung zu nennen, die im Alltag benötigt wird. Das Ergebnis führt zur Festlegung eines Pflegegrads zwischen 1 und 5, der die Höhe der finanziellen Leistungen bestimmt. Je höher der Pflegegrad, desto größer die Unterstützung, die zur Verfügung gestellt wird.