„Ohne uns bricht das System zusammen!“ - Brigitte Wetzl erzählt ihren Alltag als pflegende Angehörige
Seit neun Jahren pflegt Brigitte Wetzl (52) aus Schermbeck ihren Vater Reinhard (82) im eigenen Haus – mit schwerwiegenden Folgen, auch für ihr eigenes Leben. Das VdK-Mitglied kämpft sich durch den Alltag und sucht den Draht zu Betroffenen. Sie fordert: Pflegende Angehörige sollen ihre Stimme erheben.

Es ist der 19. Oktober 2016, der alles verändert. Reinhard Wetzl fährt allein in seinem Auto, bis er plötzlich einen Herzinfarkt erleidet. Wie schnell andere Verkehrsteilnehmer auf ihn aufmerksam werden und den Rettungsdienst alarmieren, bleibt bis heute ein Rätsel.
Reinhard Wetzl wird zunächst erfolgreich reanimiert, doch später stellen die Ärzte einen hypoxischen Hirnschaden fest. „Geistig nimmt er einiges wahr, aber im Prinzip ist er in seinem Körper gefangen. Jeglicher Impuls muss von außen kommen“, erzählt Brigitte Wetzl.
Nein zum Heim
Ihr Vater wird damals nach monatelangem Krankenhaus-Aufenthalt und einer Früh-Reha in Meerbusch von ihr jahrelang gepflegt. Im letzten Jahr bringt sie ihn in einem Pflegeheim unter. Doch Brigitte Wetzl ist über die Zustände in dem Heim schockiert: „Mit viel Glück begegnen sie einem ausgebildeten Pfleger.
Und wenn ein Bewohner wie mein Vater sich nicht selbstständig äußern kann, ist man verloren.“ Als Reinhard Wetzl der rechte Unterschenkel amputiert werden muss, holt die Tochter ihn nach Hause. Sie hält einen Behandlungsfehler im Heim für realistisch und hat deswegen eine Anwältin eingeschaltet. Das Verfahren läuft noch.
Kurz vor Weihnachten 2024, also nach vielen Jahren intensiver Rundum-Pflege plus beruflicher Verpflichtungen bricht Brigitte Wetzl auf der Arbeit mental zusammen: „Dann habe ich irgendwann zu mir gesagt: Das geht so nicht weiter. Als Steuerfachangestellte muss ich Fristen wahren.
Zwar ist mir mein Arbeitgeber entgegengekommen, sodass ich meine Stunden auf das Minimalste reduziert habe, aber ideal ist das alles nicht.“ Denn Pflege zu Hause bedeutet mehr – Arztbesuche, Einkäufe, Management der Hilfsmittel, Bewältigung bürokratischer Hürden, Organisieren von Therapien und tägliche Übungen mit dem Vater: Aufstehen, Hinsetzen, Fragen stellen wie „Was siehst du auf dem Tablet?“
Mehr als 3.000 Euro
Brigitte Wetzl entscheidet sich für eine 24-Stunden-Unterstützung, welche sie über die Agentur Sofiapflege vermittelt bekommt. Kostenpunkt: 3.000 Euro im Monat, plus jährliche Vermittlungsgebühr und Fahrtkosten! Ich habe keinen Partner und keine Geschwister. Da musste ich mir Hilfe holen“, fasst die 52-Jährige zusammen.
Die Hilfskraft wohnt in einem Zimmer mit im Haus und steht von 8-12 sowie von 14-18 Uhr zur Verfügung. Finanziell sind zum Glück noch ein paar Rücklagen da, zudem erhält Reinhard Wetzl eine gute Rente, aber die Ersparnisse schmelzen zunehmend.
Deshalb lotet Brigitte Wetzl derzeit mit ihrem Arbeitgeber aus, ob und wie sie ihren Job wieder intensiver aufnehmen kann. Gute Tipps erhält sie in einer Selbsthilfegruppe von pflegenden Angehörigen. Nachdem die Diakonie diese Gesprächsrunde für ein Pilotprojekt ein Jahr lang anbot, organisierte sie gemeinsam mit Ulla Patscheck, dass die Treffen fortgesetzt werden.
Ulla Patscheck pflegt seit elf Jahren ihren Mann, der an Alzheimer und Parkinson erkrankt ist. Die Gruppe tut ihnen gut: „Wir können etwas sagen, was die Anderen verstehen. Wir bauen uns immer wieder gegenseitig auf!“ Ein Eigenleben findet ansonsten so gut wie nicht statt. Viele aus dem Freundeskreis ziehen sich zurück, können mit der Situation nicht umgehen.
Kritik an Politik
„Wir pflegende Angehörige haben den undankbarsten Job und sind alle am Limit“, erklärt Brigitte Wetzl, und fügt hinzu: „Die Politiker sollten sich unseren Alltag mal ansehen, dann würden sie vielleicht mehr für uns machen.“
Damit spielt sie auf den im Koalitionsvertrag der ehemaligen Ampel vorgesehenen Pflegelohn an, der nie umgesetzt wurde. Aus ihrer Sicht wäre auch die Wiedereinführung des Zivildienstes hilfreich und eine Erleichterung.
Mit dem Beitrag in der VdK-Zeitung möchte die Schermbeckerin weitere pflegende Angehörige dazu animieren, über ihren Alltag zu berichten:
„Erhebt eure Stimme, damit wir mehr gehört werden. Denn eines ist klar: Ohne uns bricht das System zusammen.“
VdK-Serie: Pflege - Hände, die Halt geben
Ende 2024 hatten wir in der VdK-Zeitung einen Aufruf an pflegende Angehörige gerichtet – mit der Bitte, uns ihre Geschichte zu erzählen. Es gab zahlreiche, sehr emotionale Rückmeldungen. In unserer Serie „Pflege: Hände, die Halt geben“ möchten wir diesen Menschen ein Gesicht geben. Wir als Sozialverband VdK NRW werden uns weiter stark für Verbesserungen in der Pflege einsetzen!