Kategorie VdK-Zeitung Gesundheit Gesundheitsvorsorge

„Long- und Post-Covid: Da kommt etwas auf uns zu“

Interview mit dem Präsidenten des Landessozialgerichts, Dr. Jens Blüggel

Eine Frau mit weißer FFP2-Maske beugt sich erschöpft vornüber an ein Geländer und ballt eine Faust vor der Stirn.
Laut mehrerer Umfragen leiden besonders Frauen zwischen 18 und 45 Jahren nach einer Corona-Infektion an Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und Erschöpfung.

Das Landessozialgericht (LSG) ist zuständig für die Berufungen gegen Urteile der Sozialgerichte und für die Beschwerden gegen andere Entscheidungen der Sozialgerichte. Auch der Sozialverband VdK führt hier viele Verfahren für seine Mitglieder, immer häufiger geht es dabei um Long- und Post-Covid-Fälle im Schwerbehinderten- und Rentenrecht. Über die künftigen Herausforderungen des LSG sprach unsere Redaktion mit dem neuen Präsidenten Dr. Jens Blüggel.

Herr Dr. Blüggel, herzlichen Glückwunsch zur Ernennung zum LSG-Präsidenten. Welche Vorhaben liegen Ihnen im Sinne der Sozialgerichtsbarkeit besonders am Herzen?

Danke schön! Mir ist wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Gerichte und den Rechtsstaat weiterhin einzulösen. Umfragen zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger ein großes Vertrauen in Gerichte haben und das Recht verstehen wollen. Die Sozialrichterinnen und Sozialrichter prüfen das Anliegen der Menschen rund um alle sozialrechtlichen Belange in richterlicher Unabhängigkeit, zugleich erläutern sie den Menschen das Recht. Dies war in der Krise der Pandemie so und es war nicht anders in der größten Veränderungsphase, die die Sozialgerichte gerade durchlaufen haben. Alle Sozialgerichte in Nordrhein-Westfalen sind soeben erfolgreich digitalisiert worden, zukünftig arbeiten wir also mit digitalen statt Papierakten. Die Menschen können aber natürlich, wenn sie dies wollen, auch weiterhin über Papier mit uns kommunizieren. Wichtig ist: Zu allen Zeiten konnten sich die rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bürger auf den Rechtsstaat und ihre Sozialgerichtsbarkeit in NRW verlassen. Und nebenbei: Gleichzeitig hat der Staat – hier das Land NRW – gezeigt, dass er die Kompetenz hat, große und sinnvolle Veränderungen wie die Digitalisierung von Gerichten mit Erfolg zu organisieren und umzusetzen.

Was ist Ihnen noch wichtig?

Wichtig ist mir ferner, unsere Sozialgerichtsbarkeit und auch das Sozialrecht selbst in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. Denn fast alle Bürgerinnen und Bürger kommen im Laufe ihres Lebens mit Sozialrecht in Berührung. Das Sozialrecht bildet ja das ganze Leben in all seinen Facetten ab. Es geht, um nur einige Beispiele zu nennen, etwa um die Frage, welche Leistungen die gesetzliche Krankenversicherung erbringen muss oder unter welchen Voraussetzungen es sich bei einem Unfall im Homeoffice um einen Arbeitsunfall handelt? Aber auch: Wann ist ein Vertragsarzt zur Leistungserbringung zuzulassen? Wann ist ein Geschäftsführer oder ein Gesellschafter einer GmbH versicherungspflichtig beschäftigt, wann ein Crowdworker? In Nordrhein-Westfalen ist die Sozialgerichtsbarkeit für gut 18 Millionen Menschen mit ihren sozialrechtlichen Belangen zuständig, bundesweit wird jedes vierte sozialgerichtliche Verfahren von einem Sozialgericht in NRW entschieden.

Verfahren rund um die Grundsicherung beschäftigen Ihre Richterinnen und Richter am meisten. Was sind hierbei die zentralen Streitpunkte?

Häufig wird darum gestritten, welche Wohnung nach Größe und Preis für arbeitssuchende Menschen „angemessen“ – so die Vorgabe des Gesetzes – ist. Fordert das Jobcenter gezahlte Leistungen zurück, weil zum Beispiel Einkommen erzielt wurde oder eine Abrechnung ergab, dass die vorläufigen Leistungen zu hoch waren, landet dies auch nicht selten vor einem Sozialgericht. Es sind unterschiedliche Themenfelder, den einen typischen Streit gibt es hier nicht.

Sehen Sie vor diesem Hintergrund die Politik beim Wohnungsmarkt in der Pflicht?

Auch wir Sozialrichterinnen und Sozialrichter nehmen selbstverständlich wahr, dass es Regionen in Deutschland gibt, in denen günstiger bzw. der vom Jobcenter für angemessen gehaltene Wohnraum sehr schwer zu bekommen ist. Die Politik muss aber entscheiden, ob und ggf. welche Maßnahmen auf dem Wohnungsmarkt geboten sind.

Ein Klassiker sind Fragen rund um die Rente. Worum geht es in der Regel?

Ganz häufig geht es vor den Sozialgerichten um die Frage, ob gesundheitliche Einschränkungen des Erwerbsvermögens ein Ausmaß haben, das einen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung begründet. Dabei ist den psychischen Leiden im Laufe der letzten Jahre eine immer größere Bedeutung zugekommen. Die Erwerbsminderungsrente hat als Lohnersatzleistung nach wie vor eine sehr große Bedeutung. Bisweilen wird auch über die Höhe der Altersrente gestritten oder um die Frage, wem Kindererziehungszeiten zugutekommen.

Sie rechnen künftig mit vermehrten Long- und Post-Covid-Fällen. Woran machen Sie das fest und können Sie den genauen Umfang schon abschätzen?

Wir gehen davon aus, dass nach der Pandemie sozialrechtliche Rechtsstreitigkeiten folgen werden. Dabei wird es unter anderem um die Erwerbsunfähigkeit aufgrund von Long- oder Post-Covid gehen oder die Anerkennung von Gesundheitsschäden als Folge einer Infektion als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall. Die gesetzliche Rentenversicherung meldet einen steilen Anstieg der medizinischen Rehabilitationsverfahren, die wegen Long- bzw. Post-Covid gewährt werden. Die gesetzliche Unfallversicherung ist ebenfalls schon mit dem Thema befasst und erarbeitet eine Richtlinie zur Begutachtung von Long- und Post-Covid. Wir sind uns also sicher: Da kommt etwas auf uns zu. Allerdings können wir den Umfang derzeit noch nicht einschätzen, dazu fehlen aktuell aussagekräftige Daten.

Stehen medizinische Gutachter aufgrund der Komplexität von Corona vor neuen Herausforderungen?

Auf jeden Fall. Wir haben hierzu bereits eine Fortbildung mit Medizinern im Landessozialgericht in Essen veranstaltet, um uns auf dieses wichtige Thema vorzubereiten. Es hat sich gezeigt: Es wird nicht einfach werden, die gesundheitlichen Folgen zu begutachten, die nach einer Covid-Infektion verblieben sind bzw. auf diese zurückgeführt werden. Das fängt schon mit der Frage an, welches medizinische Fachgebiet dies am besten einschätzen kann. Ebenso wie in der Rechtswissenschaft gibt es auch in der Medizin zudem nicht selten unterschiedliche Einschätzungen und Ansätze. Und: Die medizinische Wissenschaft befindet sich insoweit noch in der Entwicklung. Wissenschaft ist Erkenntnis und diese ist nicht statisch, sondern schreitet – zum Glück - voran.

Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang im Bereich Schwerbehindertenrecht von der neuen Versorgungsmedizin-Verordnung, welche aktuell überarbeitet wird. Hier werden ja die Richtlinien zur Begutachtung festgesetzt?

Nach den bislang bekannten Entwürfen für eine neue Versorgungsmedizin-Verordnung würden sich bei deren Umsetzung für die Begutachtung im Bereich des Schwerbehindertenrechts einige wichtige Veränderungen ergeben. Neben deutlich differenzierteren Regelungen für zahlreiche Gesundheitsstörungen würde ich hier beispielsweise die Bewertung des Grades der Behinderung bei der Verwendung von Hilfsmitteln oder auch bei der Heilungsbewährung anführen. Außerdem soll etwa festgeschrieben werden, dass Sachverständige ihren Begutachtungen die offiziellen Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften zu Grunde zu legen haben, wobei wir letzteres auch derzeit bereits von unseren Sachverständigen erwarten. Für eine abschließende Beurteilung der Auswirkungen möglicher Änderungen müssen wir aber natürlich abwarten, in welcher Form und wann solche tatsächlich kommen werden. Über die entsprechende 6. Änderungsverordnung wird ja bereits seit vielen Jahren beraten und diskutiert.

VdK-Mitglieder beschweren sich häufig über lange Verfahrenszeiten. An den Sozialgerichten und am LSG dauert ein Fall im Schnitt mehr als 16 Monate. Warum ist das so und wie können Sie den Prozess beschleunigen?

Was die gerichtlichen Verfahrenszeiten angeht, liegt die nordrhein-westfälische Sozialgerichtsbarkeit im Bundesdurchschnitt der Sozialgerichte. Mir ist allerdings bewusst, dass viele unserer rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bürger die Verfahrensdauern als lang empfinden. Es dauert häufig deshalb so lang, weil wir den Sachverhalt von Amts wegen aufklären müssen. Wenn es dabei um medizinische Fragen geht, benötigen wir medizinische Sachverständige. Nicht selten müssen mehrere medizinische Sachverständige befragt werden, wenn zum Beispiel orthopädische, internistische und neurologisch-psychiatrische Erkrankungen zu begutachten sind. Wenn es aber um dringende und sehr eilige Belange geht, wird im sozialgerichtlichen Eilverfahren sehr schnell entschieden. Die aktuell sinkenden Eingangszahlen geben uns jetzt die Chance, nun die schon länger anhängigen Verfahren verstärkt anzugehen.

Bei Studentinnen und Studenten ist das Sozialrecht nicht so beliebt. Sehen Sie Nachwuchsprobleme?

Für manche Menschen mag Sozialrecht bei erster Annäherung trocken erscheinen. Das ist es aber überhaupt nicht. Man hat mit Menschen zu tun, die in unterschiedlichen Lebenslagen zum Gericht kommen. Man muss emphatisch sein und zugleich ein komplexes und anspruchsvolles Rechtsgebiet umsetzen können. Nachwuchsprobleme hatten wir bislang im richterlichen Bereich nicht. Im gehobenen Dienst sieht es anders aus. Da spüren wir Konkurrenz insbesondere von Kommunen, die andere Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht stellen. Homeoffice können wir als Justiz unseren Mitarbeitenden zum Glück jetzt auch anbieten, seitdem wir auf die digitale Akte umgestiegen sind.

Der VdK stellt in NRW mehr als 280 ehrenamtliche Richterinnen und Richter, welche die Arbeit an den Sozialgerichten und am LSG unterstützen. Wie erleben Sie deren Arbeit?

Die mündliche Verhandlung vor Gericht ist das Kernstück eines rechtsstaatlichen Verfahren und auch unserer richterlichen Arbeit. Hier begegnen sich rechtsschutzsuchende Bürgerinnen und Bürger und das Recht. Die Richterinnen und Richter geben dem Rechtsstaat ein Gesicht. Und dies gilt selbstverständlich auch für unsere ehrenamtlichen Richterinnen und Richter. Sie haben seit der Gründung der Sozialgerichtsbarkeit im Jahr 1954 an einen ganz wesentlichen Platz in der mündlichen Verhandlung. Sie bringen dabei engagiert ihre eigene berufliche und persönliche Erfahrung mit ein. Dies ist für die Sozialgerichtsbarkeit sehr wertvoll und dafür sind wir unseren ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern dankbar. Unser Dank gilt insbesondere auch der Vielzahl der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter aus den Reihen des VdK.

Interview: Tobias Zaplata